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SELF-Fragebogen und Wiedereingliederung

Frau Diem* (56 Jahre, ledig) arbeitet seit über dreissig Jahren als Kassierin in einer Lebensmittelabteilung eines Grossverteilers. Wegen chronischen Rückenschmerzen wurde sie im Bereich des Nackens und des unteren Rückens mehrmals operiert. Anschliessend arbeitete sie wieder mehrere Jahre mit einem 80% Pensum und fiel dann wegen Schmerzen und zunehmender Erschöpfung beruflich aus. Nach ein paar Monaten Arbeitsunfähigikeit stieg sie mit einem 40% Pensum wieder ein, das nun seit Monaten stagniert. Sie schätzt ihr allgemeine Gesundheit (EQ-5D) eher tief ein (30 Punkte auf einer Skala von 0 bis 100). Die altersbezogene Norm bei Gesunden wäre 82 Punkte. Obwohl die Betroffene arbeitet und einen Haushalt führt, schätzt Sie Ihre aktuelle Arbeitsleistungsfähigkeit ebenfalls sehr tief ein (2 von max. 10) im Work Ability Score (WAS). Die altersbezogene Norm wäre 7. Frau Diem äusserte, dass sie unbedingt ihr Pensum steigern oder zumindest halten zu wollen, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten und nicht auf Unterstützung von Dritten zugewiesen ist. Hinsichtlich der Wiedereingliederung stellen sich dazu ein paar Fragen: wie lässt sich die Selbsteinschätzung von konkreten Alltags- und Arbeitsaktivitäten systematisch, und möglichst realitätsnah erfassen, damit konkrete Massnahmen abgeleitet werden können? Wie ist die langfristige Prognose von Frau Diem bezüglich Rückkehr zur Arbeit? Wie lassen sich Fortschritte (oder Rückschritte) von beruflichen Tätigkeiten und Alltagsaktivitäten abbilden?

Unterscheidung von Funktion und Symptomen

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Internationale Organisation für Arbeit (ILO) betrachten die Rückkehr zur Arbeit nach Erkrankung oder Unfall als prioritäres Ziel der arbeitsbezogenen körperlichen Leistungsfähigkeit. Letztere ist sowohl für eine Standortbestimmung hinsichtlich beruflichen Perspektiven (Rückkehr zur bisherigen Arbeit, Umschulungsmöglichkeiten) wie auch zur Verlaufsbeurteilung in einem Reha- oder Wiedereingliederungsprozess. Dabei müssen Funktion und Symptome wie Schmerz, Erschöpfung und weitere Symptome auseinandergehalten werden. Symptome sind zwar lästig, aber nicht notwendigerweise hinderlich für eine Arbeitstätigkeit: Viele Menschen arbeiten trotz mehr oder weniger vorhandenen Beschwerden und haben gelernt, dabei mit den Symptomen umzugehen. Wenn wir die Befindlichkeit oder Lebensqualität erfassen wollen, dann gehört die Beeinträchtigung durch Schmerz natürlich dazu. Wenn es aber um Berufsperspektiven und ein allfällig vorgeschaltetes rehabilitatives Belastbarkeitstraining geht, ist das Funktionsniveau entscheidend.

Abbildungen aus dem SELF-Fragebogen 

 SELF Fragebogen

Eine 25 kg schwere Kiste vom Boden auf eine Werkbank heben Längere Zeit Gehen Sitzend arbeiten Längere Zeit Stehen
Bewertungsskala des SELF-Fragebogens

   Möglich                                Eingeschränkt                       Unmöglich

1 2 3 4 5

Um die Perspektive der Betroffenen die subjektive Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit zu erfassen, wurde der Fragebogen zur Selbsteinschätzung der Funktionellen Leistungsfähigkeit, kurz SELF entwickelt. Dieser umfasst typische Belastungssituationen aus der Arbeitswelt und Alltag wie beispielsweise längerdauerndes Stehen, Sitzen, Gehen und Hantieren von Lasten bis über Kopfhöhe. Die betroffene Person mittels einer numerischen Ratingskala («möglich – eingeschränkt – unmöglich») die jeweilige subjektive Leistungsfähigkeit einschätzt. Die Auswertung geschieht mittels eines Summenscores von 0 bis maximal 80 Punkte. Der Summenscore des SELF kann sowohl für die zum Vergleich mit physischen Testverfahren, wie auch der Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL) oder gängigen Klassifikationen der Arbeitsschwere, wie beispielsweise das REFA Verfahren oder die IV-Kategorien, miteinbezogen werden. Weiter eignet sich der SELF zur Verlaufsmessung und zur Prognose hinsichtlich der Wiederaufnahme der Arbeit (Score ≤ 42 Punkte = grosses Risiko für eine NICHT-Wiederaufnahme der Arbeit). Das bebilderte Instrument liegt in neun Sprachversionen vor und bewährt sich insbesondere bei Personen mit geringen Sprachkenntnissen.

Der SELF auf einen Blick:

  • Einschätzung der aktuellen Arbeits- und alltagsbezogenen Leistungsfähigkeit

  • Fragen mit Bildern und wenig Text

  • Geringer Zeitaufwand (5 Min.)

  • 9 Sprachversionen

  • Cut-off Werte für Prognose bezüglich Wiederaufnahme der Arbeit

  • Vergleich mit EFL-Testwert bezüglich Arbeitsschwere (< leicht bis > mittelschwer)

  • Wissenschaftlich validiert und in peer-reviewed Journals publiziert

Zurück zu Frau Diem. Sie schätzte sich im SELF mit einem Score 52 Punkten (von max. 80) deutlich besser ein als bei der best-möglichen Gesundheit (EQ-5D) und best-möglichen Arbeitsleistungsfähigkeit (WAS). Das deutet darauf hin, dass ihre Selbstwirksamkeit hinsichtlich konkret Alltagsaktivitäten höher ist, als anfangs angenommen. Frau Diem gab im SELF an, v.a. beim Heben von Lasten über 10 kg und Arbeiten vorgeneigt, eingeschränkt zu sein. Bei Aktivitäten die im Beruf häufig vorkommen wie beispielsweise das Stehen und Gehen, schätzt sie sich im SELF als wenig eingeschränkt ein. Der SELF half rasch einen Überblick über Einschränkungen zu konkreten Aktivitäten im Alltag zu gewinnen. Das erleichterte die Gesprächsführung und die Planung möglicher Massnahmen wie beispielsweise Coping-Strategien bei bestimmten Aktivitäten. Die Betroffenen wissen es zu schätzen, da sie merken, dass man sich für ihren Alltag interessiert und individuelle Lösungen anstrebt. Weiter komplettieren die Ergebnisse des SELF, die Befunde aus der Anamnese und Behandlung, sowie der körperlichen Untersuchung und funktionsorientierten Tests wie beispielsweise die der Evaluation der Funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL).

Weitere Informationen zum SELF-Fragebogen und die Literaturquellen sind hier auf der Webseite der Fachgruppe ‘Beruflicher Eingliederung, Rehabilitation und Ergonomie’ (BERE) der SIM zu finden.

*Name geändert

Zur Person:

Maurizio Trippolini arbeitet seit April 2024 als Freelancer der Versicherungsmedizin AEH am Standort Bern. Der gebürtige Engadiner begann seine berufliche Karriere als Golfballverkäufer, Bauarbeiter und Skilehrer. Mit dem Thema Reha- und berufliche Wiedereingliederung befasst sich Maurizio seit über 20 Jahren. Als promovierter Reha-Wissenschafter und Physiotherapeut hat er in den Niederlanden und den USA studiert und gearbeitet. Er ist Vorsitzend der Gruppe Berufliche Eingliederung, Rehabilitation und Ergonomie (BERE) und Vorstandsmitglied von Swiss Insurance Medicine (SIM). In der Freizeit versucht er mit mässigem Erfolg Rudern zu erlernen, staunt über den unersättlichen Appetit der Salat-fressenden Schnecken im eigenen Garten, und träumt von schneereichen Wintern. Maurizio lebt mit seiner Frau und den drei Kindern in der Nähe von Bern.